Ich verstehe diese Stadt nicht wirklich. Kissimmee (betont auf der zweiten Silbe) scheint für mich im Wesentlichen nur aus superbreiten Straßen und verstreuten eingeschossigen Häusern zu bestehen. Unser Baymont Inn mit seinen zwei Stockwerken zählt hier zu den "Hochhäusern".
Das Baymont Inn liegt an der Durchgangsstraße US 192, auf unserer Höhe mit dem poetischen Namen Vine Street benannt, durchgehend sechs- bis achtspurig, an wesentlichen Kreuzungen wie der zum Walmart mit Abbiegespuren auch schon einmal zehnspurig.
Uns gegenüber liegt ein Wüstenfort in verkrachtem Marrakesch-Barock. Es beherbegt einen Souvernirladen, den Tiger Tatoo Shop, ein Ruskii Magazin, ein Schuhgeschäft und einen Ein-Dollar-Laden.
Die leicht an einen Tempel aus der Spätrenaissance erinnernde Fassade gleich neben an ist eine Reifenhandlung. Gleich neben unserem Hotel ist ein Restaurant mit Drive-Thru Schalter zu vermieten.
Mit einem entschlossenen morgendlichen Jogging hatte ich vor, die Innenstadt von Kissimmee zu ergründen. Immerhin hatte ich schon die Highstreet gesichtet, nach meinem fundierten Halbwissen die Hauptschlagader jeder amerikanischen Kleinstadt. Aber auch hier das gleiche Bild. Vereinzelte flache Häuser auf riesigen Grundstücken - für mich nichts erkennbar zusammenhängendes. Dann ein dreistöckiges Gebäude auf der rechten Seite, die Cty Hall von Kissimmee und 400 m weiter auf der anderen Seite die Osceola County Police Station. Wie kann eine Stadt nur auf so viel Raum zerstreut sein, dachte ich und las bei Wikipedia nach. Mit 61.000 Einwohnern auf 45 km2 ein Bevölkerungsdichte von 1360 pro km2, zwei Drittel einer vergleichbaren Ruhrgebietsstadt (Gladbeck mit 2000 Einwohnern/km2)aber eineinhalb mal so dicht wie das 5x größere Münster mit 930 Einwohnern/km2.
Alles ist hier auf das Auto ausgerichtet. Heute Morgen habe ich mir an einem Drive Thru ATM (Geldautomaten) Geld gezogen. Nebenan ist eine Drive Trhru Apotheke, bei der man laut Leuchtreklame auch Eier kaufen kann. Auf dem Parkplatz vom Walmart hätten mehrere Ruhrgebietszechensiedlungen Platz. Es gibt auch Fußgänger, die immerhin am sechsspurigen Highway Bürgersteige haben, abseits vom Highway darf man damit nicht rechnen. Die vereinzelten Radfahrer sind überwiegend Bucks-Studenten von Simons Uni, die die drei Kilometer vom Venetian Bay zum Flugplatz irgendwie zurück legen müssen - eine Aufgabe, die einigen Mut und viel Gelassenheit erfordert. Jogger grüßen sich untereinander - wahrscheinlich aus dem Bewußtsein heraus, zu einer kleinen verrückten Minderheit zu gehören.
"Good morning, how are you today, Sir?" Diese freundliche Frage stammt nicht etwa von einem behandelnden Arzt. Es ist eine von 32 Walmartkassiererinnen, die heute Morgen um 11 an der Kasse standen. Freundliche Höflichkeit ist Standard bei den meisten. "Have a good day", wüscht der Kassierer an der Autobahnmautstelle, bei dem pro Stunde sicher 150 Autos vorbei kommen. "Hi, guys, my name is Steve and I will be serving you tonight." Steve bringt uns an einen Tisch im australisch anmutenden Outback-Steakhouse. Man setzt sich nicht einfach. "Sie werden platziert!" "My name is Lynn, welcome to Bank of America. How can we help you today?" Ich möchte gerne ein paar aus dem Automaten gezogene Scheine in Kleingeld tauschen. Das ginge leider nur für Kunden, warum ich denn kein Konto bei ihnen hätte. Ich wäre nur zu Besuch, entgegne ich. Ach so, sie wolle sich für mich einsetzen. Ich bekomme mein Wechselgeld. "Thank you for making business with Bank of America. Have good day, Sir."
By Waltmart and der Ampel bei den Rechtsabbiegern scheint ein fester Bettelplatz zu sein. Jeden Abend steht da eine andere Frau. "Ich bin nicht faul, ich will arbeiten. Aber ich habe meinen Job verloren und meine Wohnung. Jetzt brauche ich Hilfe."So steht es auf ihrem Pappschild. Einen Zahnarzt kann sie sich schon lange nicht mehr leisten. Hartz IV, so jammervoll wenig das auch ist, davon träumt sie hier nicht einmal.
Amerikaner und die Sicherheit. Ich geb es zu. Bei diesem Thema bin voreingenommen. Ein Rechtssystem, in dem sich vor allem Rechtsanwälte eine goldene Nase verdienen können, wenn sich eine Frau heißen Kaffee aus dem Pappbecher über die Hose kippt und die Fastfoodkette deswegen erfolgreich auf Schmerzensgeld verklagen kann, weil niemand sie gewarnt hat, das Kaffee heiß ist ... :wall:
Simon will mal eben an der Flugschule rausspringen. Ich halte mit laufendem Motor, aber die Beifahrertür bleibt verriegelt - automatisch, aus Sicherheitsgründen. Motor abstellen hilft auch noch nichts. Erst muss ich den Zündschlüssel abziehen. Geht aber nicht, weil der Fahrstufenhebel noch auf D steht. Also anhalten, Fahrstufenhebel auf P, Motor aus, Zündschlüssel abziehen - und schon befindet die Bordelektronik, dass der Sicherheit Genüge getan sei und gibt mit einem hörbaren "Klack" die Türverriegelung frei. O Wunder, man kann das System tatsächlich manuell überwinden und das Türschloss schon bei laufenden Motor freigeben. Im Frühstücksraum begeistert mich ein Warnhinweis bei den Thermoskannen:
Dass sich Kinder unbeaufsichtigt Kaffeetassen nähern dürften und heißem Wasser, das wär ja noch mal schöner. Eine Altersgrenze für den unbeaufsichtigten Umgang mit Kaffeetassen gibt das hilfreiche Verbotsschild nicht, sechs , zehn, sechzehn Jahre - wann wird das Risiko tragbar? Simon erspart mir zum Glück die Frage. Er verschmäht den Kaffee von der Frühstücksbar und erspart mit das Problem der Aufsichtspflicht.
Die älteste Brauerei Amerikas geht auf das Jahr 1829 zurück und blickt auf eine inzwischen 181 jährige Tradition zurück. Das bescheinigt mir auf meine Absackerbierdose Dick Yuengling, der Präsident der Brauerei D. G. Yuengling and Son (offenkundig ein frühes Ergebnis der chinesischen Ein-Kind-Familienpolitik). Die Bierdose ziert ein Warnhinweis: "(1) According to the surgeon general, women should not drink alcoholic beverages during pregnancy because of the risk of birth defects. (2) Consumption of alcoholic beverages impairs your ability to drive a car or operate machinnery, and may cause health problems." Zum Glück bin ich nicht schwanger. Fahren tu ich heute Abend nicht mehr. Das Risko trag ich - in diesem Sinne: Prost :beer:
Amerika, Du bist faszinierend und schön, manchmal abstoßend und häufig unbegreiflich. Vielleicht verstehe ich dich ja mit der Zeit noch besser.