Aktuell in der FAZ: Der kurze Traum vom Leben als Privatpassagier

  • Wie es ist, wenn man in einer Autofabrik seinen neuen Wagen abholt, weiß jeder. Doch wie ist es, wenn man zu Boeing nach Seattle fliegt, um sein neues Flugzeug in Empfang zu nehmen?

    Von Jakob Strobel y Serra

    04. Februar 2011

    Herr Grell versteht schon Spaß. Aber nicht bei Flugzeugen. Da ist ganz schnell Schluss mit Scherzen. Wenn Herr Grell ein Flugzeug abholt, wird aus dem gemütlichen Mann mit dem weißen Haarkranz ein Perfektionist ohne Gnade, ein Pedant ohne Humor, der auf jede Niete schaut, an jedem Kabel zupft, gegen jede Leitung klopft. Sechsundachtzig Maschinen hat er in all den Jahren bisher für seinen Arbeitgeber abgenommen, der lange Zeit Hapag Lloyd hieß und seit kurzem Tuifly heißt. Jetzt ist Nummer siebenundachtzig an der Reihe, eine der letzten vor der Rente, eine Boeing737-800, Listenpreis siebzig Millionen Dollar, da kann man schon mal genauer hinschauen. Das fehlerfreie Flugzeug gebe es nicht, sagt Cheftechniker Grell mit einer Mine zwischen Nachsicht und Ingrimm, es sei eben ein Produkt, das von Menschen gemacht werde. Und so ist er mit seinen Leuten seit zwei Wochen in Seattle, um die neue Maschine mit seinem Perfektionistenpedantenblick zu röntgen, Millimeter für Millimeter, Bolzen für Bolzen. Ganz wichtig sei es, vor der Lackierung hier zu sein, sagt Herr Grell, nur so habe er eine kleine Delle am Leitwerk entdecken können, keine große Sache, aber doch eine winzige Beeinträchtigung der Aerodynamik, die jedes Jahr Hunderte Liter Kerosin gekostet hätte. Und dann lächelt Herr Grell leise triumphierend wie ein Hercule Poirot der Luftfahrttechnik und hat sehr viel Spaß an seinem Beruf.

    Wer bei Boeing ein Flugzeug bestellt, wird erst einmal ins Customer Experience Center gebeten, ein schmuckloses Gebäude in einem Industriegebiet vor den Toren der Stadt. An den Wänden hängen nostalgische Plakate aus der frühen Fliegerei, im Foyer steht das Hirngespinst des Überschalljets Supersonic mit seinen Hammerhaiflügeln am Cockpit, und vor einer riesigen, bunt blinkenden Weltkarte kann man ganze Tage staunend wie ein kleiner Junge verbringen: Für jeden Maschinentyp von Boeing und Airbus gibt es einen Knopf; drückt man ihn, sieht man als leuchtendes Glühwürmchengewimmel, wo überall auf der Erde gerade ein solches Flugzeug unterwegs ist. Ansonsten geht es hier eher nüchtern zu. Die Kunden können die originalgetreuen Innenkabinen der aktuellen Modelle inspizieren und sich über die Neuheiten der Saison informieren. Revolutionäres gibt es aber nicht, die seit mehr als vierzig Jahren gebaute 737 ist ein ausgereiftes Produkt. Eine Positionslampe am Rumpf hat jetzt eine Tropfenform, das macht sie windschlüpfriger, und die Turbinen sind nun noch ein wenig effizienter - fünftausend Stunden Dauertest in der Wüste hätten sie hinter sich und dann noch einmal hundertfünfzig Stunden Stresstest unter Höchstbelastung, sagt der Mann von Boeing fast beschwörend, als wolle er versichern, dass ein Malheur wie mit dem Rolls-Royce-Triebwerk bei der Qantas-Maschine in Singapur den Boeing-Kunden niemals passieren könne. Gut zu wissen, dann nehmen wir doch die Maschine.

    Die größte Fabrikhalle auf Erden

    Zuerst muss sie zusammengebaut werden, und zwar in Renton, einem Vorort von Seattle, in einer riesenhaften Halle voller gigantischer Sternenbanner. Denn Flugzeugbau ist ein kontinentalpatriotisches Geschäft, vernietete Vaterlandsliebe sozusagen, und je nach Perspektive ist Boeing der Beelzebub und Airbus der Erlöser oder umgekehrt. Siebzigtausend Quadratmeter ist die Halle groß - und damit immer noch ein Winzling im Vergleich zur Boeing-Fabrik in Everett, einem Monstrum von einem Kilometer Länge und einem halben Kilometer Breite, der größten Halle auf Erden, in der alle 747, 767, 777 und 787 unter einem Dach montiert werden. Neben diesen Giganten sehen die Rümpfe der 737, die vor der Halle in Renton auf überdimensionalen Eisenbahnwaggons ihrer Vollendung harren, wie Spielzeug aus. Es sind Torsi in grüner Schutzfarbe ohne Flügel, Heckflosse und Fahrwerk, die in achttägiger Fahrt aus Wichita in Kansas kommen und eher an Wracks als an werdende Flugzeuge erinnern, ganz so, als ende ihre Reise hier, anstatt zu beginnen.

    Drinnen in der Halle wird dann aber das Wunder des Fliegens wahr. Wie von Zauberhand verwandeln sich die traurigen Torsi innerhalb weniger Tage in fertige Flugzeuge. Einer hinter dem anderen sind sie wie auf einem Fließband aufgereiht, das sich viel zu langsam bewegt, um es wahrnehmen zu können. Und doch ist hier alles in Bewegung, alles fließt, alle Arbeitsrampen, Werkzeugkästen, Hebebühnen haben Rollen und werden von ruhelosen Arbeitern ständig hin- und hergeschoben.

    420 mal zur Sonne und zürück

    Es ist ein organisches Wachsen, bis alle dreihundertsiebenundsechzigtausend Einzelteile zusammengefügt sind, aus denen eine Boeing737 besteht, zusammengehalten von noch einmal so vielen Bolzen und Nieten, und wehe, ein Teil wird vergessen, ein Wunder, dass es so selten geschieht. Reine Handarbeit ist die Flugzeugmontage, viel zu delikat, viel zu komplex für Roboter. Nichts Automatisiertes, fast etwas Mystisches hat die Metamorphose des Einzelnen zum Ganzen, der Torso-Larven zur fliegenden Maschine. Und fast sakral wirkt die Ruhe in der Halle, als sei sich hier jeder der Ernsthaftigkeit seines Tuns bewusst. Wenn man sich allerdings die Monteure anschaut - keine ernst dreinblickende Ingenieure mit dicken Hornbrillen und blütenweißen Kitteln, sondern beinahe ausnahmslos angelernte Hilfskräfte in Holzfällerhemden mit Baseballmütze und Fastfoodwampe -, wundert man sich erst recht, dass beim Fliegen so wenig passiert. Sie machen aber einen guten Job, keine Frage. Auf einer Tafel in der Halle steht, dass sechstausend Boeing737 seit 1968 Renton verlassen haben und vierzig Prozent von ihnen immer noch in der Luft sind. Alle 4,2 Sekunden startet oder landet angeblich irgendwo eine 737. Zwölf Milliarden Passagiere haben sie bisher transportiert und dabei vierhundertzwanzig Mal die Strecke von der Erde zur Sonne und zurück absolviert.

    Irgendwo in der Halle könnte auch Herr Grell sein, der im Leib seines Flugzeugs herumkrabbelt und an Steckern rüttelt, weil er nicht an Wunder glaubt, sondern nur an Tatsachen. Tatsächlich sei das Fliegen nur deswegen so sicher, weil nichts dem Zufall überlassen bleibe und es immer dem Prinzip des "Fail Safe" gehorche, sagt Herr Grell später in einer ruhigen Minute: Wenn ein Instrument, ein Triebwerk, irgendeine systemrelevante Struktur ausfalle, gebe es immer Ersatz. Von den drei Nietenreihen eines Flugzeuges trage eine die Last, die beiden anderen dienten nur der Sicherheit. Von den zwei Bugrädern brauche man eigentlich nur eines zum Starten und Landen, und mit den Turbinen sei es genauso. Vor jedem Flug werde die notwendige Schubkraft so berechnet, dass man zur Not auch mit einem Triebwerk abheben könne. Und dass sich der Rumpf einer 737 in der Reiseflughöhe um sieben Zentimeter ausdehne, sage er jetzt nur so am Rande, das wolle man als Passagier lieber gar nicht wissen. Dann lächelt Herr Grell ein wenig verschwörerisch.

    Blütenweiß lackierte Privatjets

    Wenn ein Flugzeug die Halle in Renton verlässt, ist die Arbeit noch lange nicht getan. Jetzt unternehmen erst die Boeing-Ingenieure und dann Herr Grell und seine Leute jeweils einen Testflug, bei dem sie extreme Manöver vollführen, um die Maschine an ihre Grenzen zu bringen, Sturzflug und andere Sachen, die man als Passagier nie erleben will. Dann landen sie auf dem Boeing Field direkt neben dem Hafen von Seattle mit Blick auf die Skyline, sozusagen dem Auslieferungslager von Boeing. Hier stehen brandneue Kurzstreckenmaschinen Spalier, wie sie so nie wieder zusammenkommen werden: Flugzeuge im Dutzend für Southwest und United, den größten 737-Kunden überhaupt, Flugzeuge für Billigfluggesellschaften aus Norwegen, Brasilien, Indonesien und Irland, Flugzeuge mit dem Inuit von Alaska Airlines und dem Känguruh von Qantas auf der Heckflosse, Flugzeuge mit dem stilisierten Vogel von Turkish Airlines und der stolzen Krone von KLM, dazwischen blütenweiß lackierte Privatjets, die sich irgendwelche Scheichs oder Investment-Milliardäre daheim in ihren Lieblingsfarben anmalen lassen werden. Und mittendrin steht in grellem Gelb wie ein fliegendes Postauto die Maschine von Herrn Grell.

    Herrn Grell kennt hier jeder. Man hat Respekt vor ihm und vielleicht sogar ein bisschen Angst, weil er so streng sein kann. In dem gesichtslosen Bürogebäude neben dem Rollfeld, das nicht mehr Charme hat als ein Einwohnermeldeamt und genauso viel Glamour wie eine Steuerbehörde, findet die letzte Runde statt. In kleinen Konferenzräumen sitzen Käufer und Verkäufer zusammen und feilschen wie die Teppichhändler auf dem Basar um die letzten Beanstandungen. Denn ein Flugzeug hat keine Garantie, nicht so wie ein Auto - geht etwas kaputt und ist keine grobe Fahrlässigkeit des Herstellers nachweisbar, hat der Käufer Pech gehabt. Der Ton ist freundschaftlich, aber geschenkt wird sich nichts, nicht einmal ein paar Liter Kerosin. In Herrn Grells neuer Maschine ist bei weitem nicht genug Treibstoff für den Heimflug. Da sind - siebzig Millionen hin oder her - Flugzeugbauer nicht großzügiger als Autohersteller, die auch nur Benzin bis zur nächsten Tankstelle in den Neuwagen füllen.

    Herr Grell ist so streng wie das Gesetz

    Die Übergabe des guten Stücks aber kann es mit dem pompösen Zeremoniell, das sich viele Autofirmen mittlerweile einfallen lassen, nicht aufnehmen: kein präsidialer Kundenberater, kein perlender Champagner, keine rührseligen Glückwünsche, keine Freudentränen wie vorm Traualtar, sondern ein nüchterner Raum, eine Handvoll Vertreter von Boeing und Tuifly; dann ein Anruf, ob das Geld auch da ist, sonst geht kein Flugzeug vom Hof - alles in Ordnung, Unterschriften mit Boeing-Kugelschreibern, die kann der Käufer als Souvenir behalten, symbolische Übergabe der Schlüssel, die nirgendwo hineinpassen und sehr bald weggeschmissen werden, Händeschütteln, das war's. Nein, noch nicht ganz: Denn in derselben Minute, in der das Flugzeug gekauft wird, wird es schon wieder verkauft, an eine Leasingfirma in Irland, aus Steuergründen, was denn sonst. Jetzt noch schnell die Ausreiseformalitäten, die keine sind. Statt eines grimmigen Grenzbeamten schaut ein freundlicher Mann von Boeing beiläufig in den Pass, hakt die wenigen Passagiere auf einer Liste ab und verabschiedet sie jovial. Dann geht es ein paar Schritte hinaus aufs Rollfeld und gleich danach heim nach Hannover.

    Die Entfernung zwischen Seattle und Hannover beträgt etwas mehr als achttausend Kilometer. Die maximale Reichweite einer Boeing 737-800 liegt nach Werksangaben bei fünftausendvierhundertfünfundzwanzig Kilometer. Trotzdem würde es Herr Grell mit einem kräftigen Rückenwind ganz knapp bis nach Hause schaffen und legt nur aus Sicherheitsgründen einen Tankstopp in Island ein. Denn ein Flugzeug ist kein Auto, dessen Tankinhalt im wesentlichen den Radius bestimmt. Bei einem Flugzeug spielt das Gewicht die entscheidende Rolle: Je leichter es ist, umso weiter kann es fliegen, und ein-, zweihundert Menschen machen leicht ein-, zweitausend Kilometer Unterschied. Herr Grell hat nur ein Dutzend Mitstreiter, darunter zwei Kapitäne, die jetzt haargenau berechnen, mit welcher Schubkraft sie starten und fliegen und landen. Die Triebwerke so wenig wie irgend möglich zu beanspruchen sei das Ziel jeder Fluggesellschaft, sagt Herr Grell, denn das erhöhe die Lebensdauer und - fast wichtiger noch - verlängere die Wartungsintervalle. Und dabei gehe es nicht Pi mal Daumen zu, nein, nein, über jede Minute Beanspruchung werde exakt Buch geführt, genauso wie über die Biographie aller systemrelevanten Teile der Maschine, über deren Herkunft, Wartung, Austausch. Deswegen passten die Unterlagen eines Flugzeugs von der Bedienungsanleitung bis zum Inspektionsheft auch nicht ins Handschuhfach, sondern knapp in zwei Kisten. Das alles sei ja gesetzlich vorgeschrieben, sagt Herr Grell so streng, als sei er selbst das Gesetz.

    Krebsscheren, Rinderfilet und eine Party in der Galley

    Ein Überführungsflug ist vor dem Gesetz ein Privatflug mit einem „Permit of Fly“, einer vorläufigen Zulassung. Das Gesetz schreibt auch vor, dass ein Flugbegleiter mit an Bord sein muss, immer mindestens einer pro fünfzig Passagiere. Deswegen haben Flugzeuge eher neunundneunzig Sitze als hundertundeinen oder dreihundertneunundvierzig statt dreihundertfünfundfünfzig. Herrn Grells Maschine hat hundertneunundachtzig Sitzplätze, die maximale Zahl für diesen Typ, die sich wiederum aus der Evakuierungsgeschwindigkeit errechnet: In neunzig Sekunden müssen alle Passagiere durch die Hälfte der Notausgänge das Flugzeug verlassen können. Dass diese Formel keine Behördenwillkür ist, hat sich bei der Bruchlandung eines Airbus A340 von Air France vor sechs Jahren in Toronto gezeigt: Alle Passagiere konnten das Flugzeug, bei dem die Hälfte der Türen blockiert waren, gerade noch rechtzeitig verlassen, bevor es komplett ausbrannte.

    Herr Grells Maschine ist mit der derzeit komfortabelsten Innenkabine von Boeing ausgestattet, die „Sky Interior“ heißt, großzügiger ist als ihre Vorgänger und das Licht so dimmen kann, dass man sich an einen Sonnenuntergang erinnert fühlt. Großzügig ist Boeing - anders als beim Kerosinknausern - beim Catering. Es gibt Krebsscheren, Langustinenschwänze und Rinderfilet, dazu reichlich Schaumwein, und recht bald sind die Fluggäste in Partylaune und rotten sich dort zusammen, wo sich die Gäste jeder guten Party immer zusammenrotten: in der Küche, die hier allerdings Galley heißt. So gut, sagen sie sich beschwingt, werden Essen und Stimmung wahrscheinlich nie wieder an Bord sein, und so leer wird das Flugzeug niemals mehr seine Bahnen ziehen. In seinem künftigen Leben muss es vollbesetzt Urlauber von Deutschland an die Badeorte rund ums Mittelmeer bringen, manchmal auch Nachtpost von Hannover nach Stuttgart fliegen, und im Winter wird es nach Kanada ausgeliehen, um Kälteflüchtlinge in die Karibik zu schaffen. Selbst Herr Grell wird jetzt ein bisschen sentimental und sagt, zu jedem Flugzeug habe er schon eine Art Gefühlsbindung, er kenne es ja in- und auswendig und besser als irgendjemand sonst. Für Wehmut hat er aber gar keine Zeit. Schon in den nächsten Tagen muss er den Papierkram mit dem Bundesluftfahrtamt erledigen, Eintragungsschein, Lärmzeugnis, Luftfahrttüchtigkeitsfolgezeugnis und andere lange Wörter, die Herrn Grell wie Jamben von den Lippen perlen.

    Ernüchterung am S-Bahnhof

    Dann ist Stille im Flugzeug, und die Handvoll Passagiere freut sich am seltensten Glück der kommerziellen Luftfahrt: dem Überfluss, dem Luxus von Raum und Ruhe, dem Geruch nach Unverbrauchtem, Unbenutztem wie bei einem jungfräulichen Auto, dem Gefühl, als sei man wirklich ein privilegierter Privatgast in einer Privatmaschine und keine menschliche Sitzplatznummer, als habe Herrn Grells Maschine - und mit ihr wir alle - die besten Tage noch vor sich und nicht schon längst hinter sich. So fliegen wir, quer über drei Sitze ausgebreitet, zugedeckt von unserer Privatstewardess wie von einer liebenden Mama, durch die schwarze Nacht des Nordatlantiks und träumen süß von der schönen Unmöglichkeit. Die Passpolizisten erhalten nach der Landung im Morgengrauen die Illusion freundlicherweise noch ein wenig aufrecht und kommen wie bei den echten VIPs höchstpersönlich in die Maschine, und der Zoll erteilt seine Absolution gleich ganz leger fernmündlich. Dann winken wir Herrn Grell zum Abschied lange zu, dessen müde lächelndes Gesicht zu sagen scheint, dass jedes Abenteuer beim siebenundachtzigsten Mal zur Arbeit wird, und nehmen die S-Bahn zum Hauptbahnhof. Berufsverkehr, Alltagsmuff, kein Lächeln, keine Privatzugbegleiterin. Jetzt ist alles wieder wie immer.

    Torsten

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